Eine ungesunde Gesundheitsreform in der Schweiz, Teil 2

In meinem letzten Blog habe ich über die vom Schweizer Bundesrat vorgeschlagene Reform des Schweizer Gesundheitswesens und über eine umstrittene Massnahme zur Einführung von Budgetbeschränkungen für die ambulante Gesundheitsversorgung geschrieben, mit der die Ausgaben für Behandlungen begrenzt werden. Die Einzelheiten sind in meinem letzten Blog erläutert. Diese Massnahme wird von den Betroffenen fast einhellig abgelehnt: von Patient:innen, Ärzt:innen, Versicherern und der Industrie.

Die Vorschläge wurden dem Parlament im Frühjahr vorgelegt. Dieses Blog-Titelfoto wurde von Michel Guillaume, Korrespondent des Bundeshauses für die Schweizer Zeitung "Le Temps", auf Twitter veröffentlicht und zeigt die Anwesenheit bei der Parlamentssitzung am 31.05.2022. Es dokumentiert die Beteiligung und das Engagement - oder vielmehr den Mangel daran - der Schweizer Parlamentarier:innen bei der Diskussion eines der wichtigsten Themen für die Bürger:innen und die Gesellschaft - die Gesundheitsreform zur Schaffung eines Gesundheitssystems, das die beste Versorgung für alle in der Gesellschaft bietet. Wie Michel Guillaume von Le Temps berichtete, nahmen nicht einmal ¼ der Parlamentarier:innen an der Debatte teil. Vor diesem Hintergrund der Gleichgültigkeit wurde das Gesetz am 07.09.2022 ordnungsgemäss verabschiedet, der Bundesrat nahm die Gesetzesvorlage zur Änderung des Krankenversicherungsgesetzes an.

Die genehmigte Strategie lässt viele andere Möglichkeiten zur Kosteneinsparung und zur Verbesserung der Qualität der Versorgung ausser Acht. Insbesondere werden die Möglichkeiten zur Kosteneinsparung ignoriert, die sich ergeben, wenn man den Patient:innen zuhört - etwas, worüber ich in diesem und anderen Blogs geschrieben habe. Diese wären beträchtlich - wenn die richtigen Anreize und Strukturen zur Verfügung gestellt würden.

Patient:innen im Mittelpunkt der Gesundheitsversorgung

Die Reform sollte die Patient:innen in den Mittelpunkt des Gesundheitswesens stellen und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich das System auf künftige Herausforderungen und Chancen vorbereiten kann. Politiker scheinen das Schweizer Gesundheitssystem als eine fiskalische Belastung zu sehen, die durch Sparmassnahmen und Budgetbeschränkungen bewältigt wird. Meiner Meinung nach ist ein effektives und effizientes Gesundheitssystem eine Investition in die Arbeitskräfte als Voraussetzung für eine florierende und gleichberechte Wirtschaft. Ich bestreite nicht, dass es im Schweizer System enorme Kostenineffizienzen gibt. Jede/r, der oder die das System nutzt, wird häufig mit ihnen konfrontiert. Die Reformbemühungen der Regierung scheinen das Problem darin zu sehen, dass Ärzt:innen medizinisch ungerechtfertigte Behandlungen durchführen und ambulanten Patient:innen zu viele Medikamente verschreiben, für eine Behandlung, die sie nicht wirklich brauchen und ihre Beschwerde sich vielleicht nur ausdenken. Ist dies wirklich die Hauptursache der Probleme?

Wie die meisten Menschen, die von chronischen Krankheiten[1] betroffen sind, gehe ich relativ häufig zum Arzt und nehme teure Medikamente ein. Vielleicht führen Budgetrestriktionen dazu, dass mein Arzt meine Versorgung einschränkt und damit die direkten Kosten meiner ambulanten Behandlung reduziert. Aber chronische Krankheiten verursachen auch indirekte Kosten, nämlich den krankheitsbedingten Produktivitätsverlust der Patienten und ihrer Familien. Es gab Zeiten, in denen ich nicht zum Dorfladen gehen konnte, nicht schlafen konnte und nicht arbeiten konnte. Insgesamt habe ich fünf Jahre meines Lebens damit verbracht, Arbeitslosengeld zu beziehen. Jetzt arbeite ich Teilzeit.

Meine Situation ist keine Ausnahme. Es gibt Tausende von Menschen, denen es so ergeht. [2 ] Wenn die ambulanten Dienste eingeschränkt werden, die es Menschen wie mir ermöglichen, wieder ein normales Leben zu führen, können die indirekten Gesundheitskosten und das damit verbundene Elend und die Not der betroffenen Patient:innen steigen. Und diese Kosten sind nicht zu vernachlässigen. Wie die nachstehende Grafik zeigt, sind die indirekten Kosten von muskeloskelettalen Erkrankungen viel höher als die direkten Kosten der ambulanten Behandlung. Schauen wir uns das genauer an.

Die Gesundheitskosten werden nicht von den Ärzten verursacht!

In der Schweiz sind 80 % der Gesundheitskosten auf chronische oder nicht übertragbare Krankheiten (NDCs) zurückzuführen - in normalen Zeiten ausserhalb der Covid-19-Pandemie. Die vier grössten Kostentreiber sind hier dargestellt, wobei die direkten Kosten lila[3] und die oben erwähnten indirekten Kosten türkis[4] schattiert sind. Die grösste Krankheitsgruppe sind die muskeloskelettalen Erkrankungen. Es ist ersichtlich, dass die gesamten indirekten Kosten für die vier teuersten Krankheiten höher sind als ihre direkten Kosten. Diese Zahlen wurden zuletzt im Jahr 2011 veröffentlicht. Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) sind die Kosten der NDCs in der Schweiz zwischen 2011 und 2019 um weitere 28% gestiegen.

Die neuen Massnahmen werden die ambulante Gesundheitsversorgung einschränken, aber sie gehen nicht den Bereich an, in dem die meisten Kosten anfallen: die indirekten Kosten. Stattdessen werden die Massnahmen mit ziemlicher Sicherheit die Qualität der Versorgung verringern und die Wahlmöglichkeiten der Patienten einschränken, was zu höheren indirekten Kosten führen kann. Ausserdem werden sie zu höheren Verwaltungskosten führen, da das medizinische Personal den Nachweis erbringen muss, dass es keine überhöhten Ausgaben tätigt. Dies kann durchaus zu unerwünschten Ausweichmanövern und Nebenwirkungen führen.... Wie wirken sich diese bürokratischen Massnahmen und der bürokratische Aufwand beispielsweise auf die Motivation der Ärzt:innen und des Pflegepersonals aus, von denen viele durch die mehr als zwei anstrengenden Jahre der Pandemie bereits demoralisiert sind?

Patient:innen wissen es am besten!

Meine Ärzte wollen das Beste für mich. Sie haben ein enormes Fachwissen und wissen viel über meine Krankheiten. Aber ich weiss auch viel über mich selbst, weil ich 24/7 mit meinen Krankheiten lebe. Vor allem bei chronischen Patienten mit Multimorbidität kann sich kein Arzt oder Ärztin dieses Wissen jemals aneignen, wenn er/sie Patient:innen vielleicht 1-2 Mal im Jahr sieht.

Das Gesundheitswesen hat eine jahrhundertelange Tradition des Patriarchats und nicht auf den Verbraucher zuhören. Überlegen Sie mal: In welchen anderen Branchen werden die Verbraucher:innen nicht nach ihren Bedürfnissen und Wünschen befragt? Ich habe vor über 5 Jahren begonnen, diesen Blog zu schreiben, weil es mir der beste Weg schien, meiner Stimme als Patientin Gehör zu verschaffen. Seither hat der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) damit begonnen, einige medizinische Forschungsprojekte zu finanzieren, bei denen die Patient:innen einbezogen werden müssen. Die Swiss Clinical Trials Organisation (SCTO) hat damit begonnen, Ressourcen über PPI (Patienten- und Öffentlichkeitsbeteiligung) in der klinischen medizinischen Forschung zu erstellen. Die Schweizerische Patientenorganisation SPO ist dabei, einen beratenden Patientenrat einzurichten, der sich aus Patient:innen zusammensetzt. Andere Patientenorganisationen ergreifen ähnliche Initiativen, obwohl diese Patient:innen noch selten in die Entscheidungsgremien eingebunden sind. Patientengeführte Organisationen sind in der Schweiz fast unbekannt. [5] Die RheumaCura-Stiftung, die ich letztes Jahr mitbegründet habe, ist eine der ersten.

In den öffentlichen Gesundheitskommissionen, die die Regierung beraten, werden immer häufiger auch Patientenvertreter:innen einbezogen, auch wenn diese Position bisher in der Regel von einem Angehörigen der Gesundheitsberufe und nicht von Patient:innen mit gelebten Erfahrungen wahrgenommen wird. Wenn eine Politiker:in mit mir sprechen wollte, würde ich viele Fragen haben. Zwei davon werden durch diesen Blog aufgeworfen:

Warum werden die indirekten Kosten der Gesundheitsversorgung in der Gesundheitsreform nicht berücksichtigt?

Warum werden chronisch Kranke nicht so unterstützt, dass sie weniger Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen, so lange wie möglich arbeiten können, aktiv an der Gesellschaft teilhaben und durch ihre Einkünfte Steuereinnahmen an den Staat abführen?


[1 ] Diese werden auch als nicht übertragbare Krankheiten bezeichnet und sind allgemein definiert als Erkrankungen, die ein Jahr oder länger andauern und ständige medizinische Betreuung erfordern oder die Aktivitäten des täglichen Lebens einschränken oder beides. Dies steht im Gegensatz zu akuten Erkrankungen, die plötzlich auftreten, sofortige oder sich schnell entwickelnde Symptome haben und von begrenzter Dauer sind, wie z. B. eine Grippe.

[2 ] Am Beispiel von Krebsüberlebenden wurde dazu aufgerufen, die indirekten Kosten für chronisch Kranke anzugehen. Françoise Meunier, ehemalige Präsidentin der Europäischen Organisation für Forschung und Behandlung von Krebs, fordert Massnahmen zur Beendigung der Diskriminierung von Krebsüberlebenden am Arbeitsplatz und in finanzieller Hinsicht, die zu hohen indirekten Kosten der Krankheit führt.

[3 ] Wieser (2014) definiert direkte Kosten als medizinische Kosten, die direkt durch den Ressourcenaufwand für die Behandlung einer Krankheit entstehen (stationäre Kosten, ambulante Kosten, Medikamentenkosten) und nicht-medizinische Kosten wie z.B. die Anpassung der häuslichen Einrichtungen, die in dieser Studie nicht gemessen wurden. Siehe Wieser et al. (2014) Die Kosten der nicht übertragbaren Krankheiten in der Schweiz, Schlussbericht im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit.

[4 ] Wieser (2014) schreibt, dass Produktivitätsverluste bei Patient:innen in Form von verminderter Leistung während der Arbeit (Präsentismus), vorübergehender Abwesenheit von der Arbeit (Absentismus) oder dauerhafter Abwesenheit (Frühverrentung) auftreten. Darüber hinaus können Produktivitätsverluste durch einen vorzeitigen Tod entstehen. Bei Angehörigen verursacht die unbezahlte Pflege (informelle Pflege) Produktivitätsverluste).

[5] Patientengeführt im Sinne der Europäischen Arzneimittelorganisation (EMA)

Eine ungesunde Gesundheitsreform in der Schweiz

Der Schweizer Bundesrat plant im Rahmen der Gesundheitsreform eine Rationierung der Gesundheitsversorgung. Das unmittelbare Ziel der Rationierung ist es, die Kosten zu senken. Als Patientin schliesse ich mich einer breiten Koalition an, die diesen Vorschlag als verfehlt kritisiert.

Wird die Rationierung der Gesundheitsversorgung die finanziellen Gesundheitskosten senken?

Und wie wird sich die Rationierung auf die Kosten in Form von menschlichem Leid auswirken, wenn sie die Qualität der Versorgung verringert?

Wenn Sie daran interessiert sind, mehr zu erfahren, lesen Sie bitte weiter...

Die Gesundheitsversorgung in der Schweiz gilt als hervorragend, ist aber auch sehr teuer. Ausserdem sind die Kostenbeiträge für die Patient:innen hoch, was das System regressiv macht: Die durch Krankheit oder niedriges Einkommen benachteiligten Menschen tragen eine verhältnismässig höhere Kostenlast als die gesunden wohlhabenden Menschen. (Die Wohlhabenden sind per se gesünder als von Armut betroffenen Menschen: zum Teil deshalb, weil sie die Mittel haben, sich gesund zu ernähren, Sport zu treiben und die Ärzt:innen bei den ersten Anzeichen eines Gesundheitsproblems aufzusuchen, anstatt zu warten, bis es ernster wird).

Das Schweizer Gesundheitssystem ist stark kommerzialisiert - selbst die Kinderspitäler streben Gewinne an, weil das System dies so vorgibt. Es ist zudem fragmentiert, wobei die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung weitgehend an die Kantone delegiert wurde, was de facto zu 26 verschiedenen Gesundheitssystemen führt. Diese Systeme werden von verschiedenen öffentlichen und privaten Stellen (Bund, Kantone, Gemeinden, Krankenversicherer und Leistungserbringer) verwaltet, organisiert und finanziert. Diese komplexe Aufgabenteilung und verschiedene Finanzierungssysteme machen das Schweizer Gesundheitssystem intransparent und kaum zu verstehen. Sie erfordern eine kostspielige Verwaltung, welche sowohl Patient:innen als auch Ärzt:innen hilft, sich im System zurechtzufinden.

Eine wirksame Steuerung dieses komplexen Systems wird zudem durch die langsame Entscheidungsfindung des politischen Systems der Schweiz und den unzulässigen Einfluss der Privatwirtschaft beeinträchtigt. Die Mitglieder der Kommissionen für soziale Sicherheit und Gesundheit im Stände- und Nationalrat ziehen beispielsweise eine beeindruckende Liste von Lobbyist:innen an, die im Interesse der von ihnen vertretenen Privatwirtschaft arbeiten und nicht im Interesse der Öffentlichkeit, die die Kommissionsmitglieder zu vertreten haben. Viele Kommissionsmitglieder sind auch in den Verwaltungsräten von Akteuren der Gesundheitsbranche tätig, was zu einem Interessenkonflikt mit ihrem parlamentarischen Mandat führt.

Schliesslich gibt es keine unabhängige Institution für öffentliche Gesundheit wie das Robert Koch-Institut, wie es sie in Deutschland gibt. Das Bundesamt für Gesundheit(BAG) wird unter Druck gesetzt, den politischen Entscheidungsträgern zu dienen. So erklärte zum Beispiel der für Sars-CoV-2 zuständige Arzt des BAG zu Beginn der Pandemie, dass Masken unnötig seien und die Bevölkerung nicht schützen würden. Viele glaubten, die wahre Erklärung sei, dass es nicht einmal für das Spitalpersonal genügend Masken gab, weil die Vorschriften für die Vorratshaltung nicht eingehalten worden waren. Was auch immer der Grund war, die Glaubwürdigkeit des BAG war in Frage gestellt.

In Anbetracht dieser Hintergründe und Merkmale argumentiere ich, dass das Schweizer Gesundheitssystem trotz des leidenschaftlich individuellen Engagements der meisten Fachleute im Gesundheitswesen in erster Linie den Branchen dient, die davon profitieren, und nicht den Menschen, für die es eigentlich da sein sollte: der Öffentlichkeit und insbesondere den Patient:innen.

Das Schweizer Gesundheitssystem dient in erster Linie den Branchen, die davon profitieren, und nicht den Menschen, für die es eigentlich da sein sollte: der Öffentlichkeit und insbesondere den Patient:innen.

Info-Box

Ein gängiges Argument gegen Kritik am Schweizer Gesundheitssystem ist, dass das System ausgezeichnet und die Bevölkerung zufrieden ist. Die jüngste Bewertung des Commonwealth Fund stuft das Schweizer Gesundheitswesen insgesamt auf Platz 9 von 11 Ländern mit hohem Einkommen und auf Platz 3 der teuersten Länder ein. Die Schweiz schneidet bei der administrativen Effizienz und dem Zugang zur Versorgung schlecht ab. Erhebungen über die Zufriedenheit der Bevölkerung variieren stark und stimmen nicht immer mit Qualitätsmessungen überein. So geniesst das nationale Gesundheitssystem im Vereinigten Königreich eine hohe öffentliche Wertschätzung, wird aber in der Schweiz sehr kritisch betrachtet. Im Schweizer Radio wird das britische System erklärt und mit den USA verglichen.

2019 veröffentlichte die Regierung eine Gesundheitsstrategie mit dem Titel "Health2030", in der viele der Probleme aufgezeigt werden, mit denen nicht nur die Schweiz, sondern auch die Gesundheitssysteme weltweit konfrontiert sind: Digitalisierung, demografischer Wandel, Zunahme der nicht übertragbaren Krankheiten und steigende Kosten der Gesundheitsversorgung.

Eine der von einer Expertengruppe vorgeschlagenen Massnahmen ist eine Gesetzgebung, die es der Regierung ermöglicht, das Wachstum der Gesundheitskosten durch "Ausgabenziele" zu begrenzen, d. h. durch Budgetbeschränkungen für die ambulante Versorgung. Das Ergebnis ist im Wesentlichen, dass ein Zielwert für die Anzahl der Krankheiten festgelegt wird, die in einem bestimmten Zeitraum, z. B. einem Jahr, ambulant behandelt werden können. Wenn die Ausgaben in diesem Jahr die festgelegte Grenze erreichen, müssen entweder Leistungen gekürzt, Wartezeiten eingeführt oder Patient:innen von der ambulanten in die stationäre Versorgung verlagert werden. Ein System von Budgetbeschränkungen wurde auch in anderen Ländern eingeführt, z. B. im Vereinigten Königreich und in jüngster Zeit in Deutschland.

Dieser Vorschlag stösst bei allen Partnern im Gesundheitswesen auf einhellige Kritik, so auch bei den Patient:innen, der Ärztevereinigung FMH, den Versichererungen und den Industrievetretungen. Die Konsultation mit den Patientenvertretungen war nur oberflächlich, und die Patient:innenen verfügen nicht über die Mittel für eine Kampagne, die anderen Akteuren im Gesundheitswesen zur Verfügung stehen. Im Folgenden stelle ich die Patientenperspektive zu diesen vorgeschlagenen Massnahmen dar. Die Ansichten sind meine eigenen, wurden aber mit anderen Betroffenen und der Schweizerischen Patientenorganisation SPO diskutiert.

Ausgabenziele im Gesundheitswesen setzen voraus, dass die Kosten kontrolliert und vorhergesagt werden können. Krankheiten oder Unfälle sind jedoch von Natur aus unerwünschte und nicht planbare Ereignisse, wie die Covid-19-Pandemie deutlich gezeigt hat. Dementsprechend können die Behandlungskosten nur dann genau vorhergesagt oder reguliert werden, wenn ausdrücklich beschlossen wird, nicht über ein bestimmtes Ziel hinaus zu behandeln. (Stefan Felder von der Universität Basel zeigt die Unmöglichkeit dieses Ansatzes und andere Unzulänglichkeiten auf, die ich hier nicht weiter erläutern möchte.) Nichtsdestotrotz ist dies die Strategie: Die Regierung schlägt vor, eine Budgetbeschränkung für die ambulante medizinische Versorgung festzulegen.

Eine solche Strategie eröffnet den Patient:innen beängstigende Perspektiven. Wenn Sie eines Tages die Diagnose Krebs erhalten, werden Sie sofort behandelt werden wollen und nicht warten. 10 % der Frauen weltweit erkranken irgendwann in ihrem Leben an Brustkrebs. Wenn bei einer Frau in der Schweiz aufgrund einer Mammographie der Verdacht auf Brustkrebs besteht, wird innerhalb von zwei Wochen nach der Verdachtsdiagnose eine Biopsie durchgeführt und mit der Behandlung begonnen. Was ist, wenn sie im Oktober eine verdächtige Mammographie erhält, aber das Budget für dieses Jahr bereits ausgeschöpft ist? Muss sie dann bis Januar warten, um die Biopsie, die ambulante Lumpektomie oder die Strahlentherapie zu erhalten? Ich, die persönlich von einer schnellen Behandlung profitiert habe, möchte nicht, dass andere Frauen aufgrund von Budgetbeschränkungen warten müssen.

Verzögerungen bei der Behandlung können zu schlechteren Ergebnissen führen. Zum Vergleich: In der Schweiz (und in anderen Ländern) führte die Covid-Pandemie dazu, dass viele Behandlungen verschoben wurden. Die zukünftigen Verluste an Lebensjahren oder Lebensqualität sind unbekannt. Die Folgen in Form von schlechteren Behandlungsergebnissen müssen noch bewertet werden. Das medizinische Personal stand vor einem enormen ethischen Dilemma, da es entscheiden musste, welche Patienten Vorrang haben sollten. Wie wird sich das auf die Moral des medizinischen Personals auswirken, wenn solche Dilemmata in das System eingebaut sind und nicht nur das Ergebnis einer weltweiten Katastrophe?

Abgesehen von den Folgen für die Patientinnen ist es unwahrscheinlich, dass diese Massnahme langfristig zu nachhaltigen Kosteneinsparungen führen wird. Nehmen wir an, dass Budgetbeschränkungen eingeführt werden, die medizinischen Kosten die Kostenobergrenze erreichen und die Rationierung der Versorgung einsetzt. Dies wird zu anderen Kosten im Gesundheitswesen führen. Im Falle von Krebs ist bekannt, dass jede Verzögerung das Risiko erhöht, dass sich der Krebs ausbreitet und nicht oder nur zu höheren Kosten geheilt werden kann. Dies gilt übrigens auch für die meisten anderen chronischen Krankheiten. Das Hinauszögern oder Aufschieben einer angemessenen Behandlung kann kurzfristig Kosten einsparen oder auch nicht, aber es scheint schwer vorstellbar, dass dies nicht die Qualität der Behandlung beeinträchtigt und zu schlechteren Ergebnissen führt, was wiederum menschliches Leid bedeutet.

Eine verzögerte oder aufgeschobene Behandlung mag kurzfristig Kosten einsparen oder auch nicht, aber es scheint schwer vorstellbar, dass dies nicht die Qualität der Versorgung beeinträchtigt und zu schlechteren Ergebnissen mit hohen Kosten für menschliches Leid führt.

Die Regierungsstrategie übersieht auch viele andere Möglichkeiten, Kosten zu sparen und die Qualität der Versorgung zu verbessern. Die Möglichkeiten zur Kosteneinsparung, die sich durch das Zuhören der Patient:innen ergeben - worüber ich in diesem und anderen Blogs geschrieben habe - sind enorm, wenn die richtigen Anreize und Strukturen zur Verfügung gestellt werden.

Schliesslich sind chronische, nicht übertragbare Krankheiten wie meine der grösste Kostenfaktor im Schweizer Gesundheitssystem, wie die Strategie Health2030 anerkennt. Es scheint wahrscheinlich, dass die chronisch Kranken von dieser Reform am stärksten betroffen sein werden, was möglicherweise neue systemische Ungleichheiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung schaffen wird.

In meinen nächsten Blogs werde ich untersuchen, wie chronisch Kranke von dieser Reform betroffen sein werden und wie die Patient:innen zu einem Gesundheitssystem beitragen können, das die Kosten senkt, ohne zu schlechteren Behandlungsergebnissen zu führen.

Fortsetzung folgt ......

"Der Schrecken wird uns mild, das Dunkel hell"

Der englische Dichter John Milton schrieb diese Zeilen in den 1660er Jahren in seinem epischen Gedicht Das verlorene Paradies*. Es war eine Zeit der gescheiterten Revolutionen, der religiösen Unterdrückung, der sozialen Konflikte und der Pest, die das Land heimsuchte und gegen die es weder Impfstoffe noch wirksame Schutzmassnahmen oder Intensivstationen gab.

Ich werde oft an seine Worte erinnert, und sie geben mir Hoffnung. Zum Glück kennen heute in der Schweiz nur wenige von uns das schreckliche Leid derjenigen, die einen geliebten Menschen durch eine Pandemie verloren haben oder chronisch krank sind. In den letzten Tagen wurde darüber diskutiert, ob wir Skifahren gehen können oder ob die Trams weiterfahren werden. Für die meisten Menschen ist SARS-CoV2 eine Unannehmlichkeit und nicht lebensbedrohlich. Dennoch verursacht die Pandemie grosses Leid in der Welt, und es hilft mir, mich daran zu erinnern, dass Pandemien nichts Neues sind und das normale Leben zurückkehren wird.

Deshalb haben ich und drei Mitstreiter mitten in der Pandemie eine Initiative für mehr patientenzentrierte Forschung zu rheumatischen und muskuloskelettalen Erkrankungen gestartet. Im Mai haben wir eine Stiftung namens RheumaCura gegründet. Mehr dazu erfahren Sie auf unserer Website.

Als ich RheumaCura gründete, fragte ich mich, ob wir uns nicht mit dieser unmittelbaren Krise befassen sollten. Milton erinnert mich jedoch daran, dass diese Zeiten vorübergehen werden und dass aber die Herausforderungen, die es zu lösen gilt, immer noch bestehen werden. Eine bessere Behandlung und die Suche nach Heilungsmöglichkeiten für rheumatische Erkrankungen sind immer noch wichtig und es gibt viel zu tun.

Unser Bestreben, die Patient*innen stärker in die Gesundheitsversorgung einzubeziehen, hat vielleicht etwas mit der aktuellen Krise zu tun. Die Bewältigung der Pandemie wird dadurch verlangsamt, dass nicht genügend Menschen geimpft wurden. In der Schweiz ist ein Impfstoff für alle verfügbar, aber ein bedeutender Teil der Bevölkerung will ihn nicht. Dies könnte nun zu einer beispiellosen Gesundheitskrise in der Schweiz führen, die nach Ansicht der Gesundheitsexperten völlig vermeidbar wäre. Wenn wir eines aus Covid-19 gelernt haben, dann, dass die Gesundheitsbehörden gegen die Pandemie machtlos sind, wenn die Bevölkerung ihre Initiativen nicht unterstützt.

Die Gründe für die Ablehnung von Impfungen sind vielschichtig, aber ein wichtiger Aspekt ist sicherlich das Vertrauen. Mike Ryan, Leiter des Programms für gesundheitliche Notfälle bei der Weltgesundheits-organisation, erklärte kürzlich: "Was mich bei dieser Pandemie am meisten schockiert hat, war das Fehlen oder der Verlust von Vertrauen", sagte er über die mangelnde Bereitschaft der Menschen, den Ratschlägen der Verantwortlichen für das öffentliche Gesundheitswesen und den von den Regierungen festgelegten Eindämmungsmassnahmen zu folgen.

Menschen, die kein Vertrauen in Gesundheitsexperten oder fundierte wissenschaftliche Beweise, in demokratisch gewählte Regierungsbehörden oder in die Medien haben, werden den von diesen Quellen gelieferten Informationen kein Glauben schenken. Sie geben sich Ängsten hin, die keine wissenschaftliche Grundlage haben. Die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Tara Haelle schreibt anschaulich über die Gründe für die zögerliche Haltung gegenüber Impfungen, über ihre lange Geschichte und darüber, warum niemand überrascht sein sollte.

Doch selbst unter der geimpften Mehrheit ist die Wahrnehmung weit verbreitet, dass das Gesundheitswesen in der Schweiz stark von der Pharmaindustrie, von Leistungserbringern wie riesigen Spitälern und von korporatistischen Einrichtungen wie den Verbänden der Krankenversicherer beeinflusst wird. Das System ist hochkomplex, hierarchisch und für Aussenstehende nicht leicht zu verstehen. Patient*innen fühlen sich oft wie Objekte in einer riesigen und mächtigen Industrie, in der sie per definitionem verletzlich sind. Es könnte mehr Vertrauen und Zusammenarbeit im Gesundheitswesen entstehen, wenn es bürgernäher wäre und die Bürger*innen stärker einbezogen wären und sich selbst stärker beteiligten.

 Ein Gesundheitssystem, wo die Patientenstimme auf allen Ebenen gehört wird, bietet eine bessere Versorgung und kann das Vertrauen in gesundheitlichen Empfehlungen stärke. Die Umsetzung der empfohlenen Massnahmen durch die Patient*innen ist wichtig für die beste Behandlung oder das optimale Ergebnis. Dies haben wir noch nie so deutlich gesehen wie bei der aktuellen Pandemie.

Lesen Sie mehr über unsere Vision und Arbeit auf der RheumaCura Website

* John Milton: Das verlorene Paradies. Aus dem Englischen von Hans Heinrich Meier, Stuttgart 2008

Sonnenuntergang in Bern
"Das Dunkel hell" Überlegungen zur Covid-19-Pandemie

Die Covid Spritze - ein überraschend emotionales Erlebnis

Die ganze Welt spricht darüber. Diagramme zeigen ihren Fortschritt. Gepriesen als eine der grössten Errungenschaften der Menschheit. Doch viele Menschen lehnen sie ab und scheinen sie noch mehr zu fürchten als Covid-19.

Der Titel meines Blogs ist ein bisschen verräterisch. Ja, in diesem Blog geht es um die Covid-19-Impfung, oder besser gesagt um meine Covid-19-Impfung, die ich heute Morgen bekommen habe, genau ein Jahr nachdem die Schweizer Regierung die "ausserordentliche Lage" verkündete und die Schweiz in einen Halb-Lockdown versetzte.

Sobald ich erfuhr, dass sich dort, wo ich wohne, Menschen aus meiner Risikogruppe für eine Impfung registrieren lassen konnten, tat ich das. Die Verzögerung bei der Einführung des Impfstoffs hatte mich ungeduldig gemacht. Die aktuelle Kombination aus steigenden Fallzahlen und politischem Druck in der Schweiz, die Restriktionen zu lockern und die Wirtschaft zu öffnen, erfüllen mich mit Schrecken. Tatsächlich hat sich die Schweiz im Vergleich zu den meisten anderen europäischen Ländern keine grossen Einschränkungen auferlegt, und es war schön, dieses Jahr mehrmals in die Alpen gehen zu können. Auf der anderen Seite war die Übersterblichkeit hoch. Ich hatte oft das Gefühl, dass die Wünsche der Mehrheit, in Restaurants zu gehen, in der Schweiz relativ mehr Gewicht haben, als die Wünsche der Minderheit, nicht Covid-19 zu bekommen.

Ich musste eine Woche auf meine Impfung warten, und es war eine lange Woche. Ich wusste, dass ich @home bleiben und sicher bleiben sollte, aber das Wetter war so schön.... Also ging ich raus und befürchtete dann, in letzter Minute Symptome zu entwickeln. Am Tag vor der Impfung fühlte ich mich so gut wie schon lange nicht mehr. Am Tag selbst wäre ich fast in den falschen Zug gestiegen und, wäre fast am falschen Bahnhof ausgestiegen. Ich dachte, ich hätte einige wichtige Dokumente vergessen, stellte fest, dass ich sie hatte, konnte sie aber wieder nicht in meiner Tasche finden, als ich im Krankenhaus ankam.

Im Impfzentrum waren die meisten Menschen älter. Die Frau neben mir im Wartezimmer war jung und sehr nervös wie ich. Ein Mann in einem weissen Kittel fragte mich nach einem Berechtigungsnachweis. Dann lud mich eine Frau in Blau - ihre Handschuhe passten genau zu meiner Bluse (siehe Foto oben) - ein, ihr zu folgen. Sie war so freundlich! Meine Nervosität verschwand sofort. Sie sagte, sie müsse mir vier Fragen stellen, und hielt fünf Finger hoch. Wir lachten zusammen.

Wenn ich im Fernsehen lächelnde Menschen sehe, welche die Impfung bekommen, dachte ich immer, dass sie ziemlich mutig sein müssten. Mussten sie aber nicht. Denn diese Impfung war nicht nur schmerzlos, ich habe sie nicht einmal gespürt. Die Frau, die mich geimpft hat, sagte jedoch, dass ich es bald spüren werde, nur nicht heute.

Nachdem ich ein paar Minuten gewartet hatte, um sicherzugehen, dass ich keine allergische Reaktion hatte, verliess ich das Krankenhaus. Die junge Frau aus dem Wartezimmer ging mit mir. Sie begann zu weinen. Auch ich spürte Tränen der Erleichterung aufkommen.

Ein Jahr des Wartens und der Hilflosigkeit, der Angst um sich selbst und geliebte Menschen, der Traurigkeit über die Verluste und den Schmerz anderer. Aber es war auch ein Jahr des Staunens über all das, was wir über Viren gelernt haben, ein Jahr der Frustration über Politiker*innen in der Verleugnung, oder der Wut über die Ungleichheiten, die Covid-19 über und innerhalb von Nationen offenbart hat. Und schliesslich ein Jahr der Verzweiflung über die Unfähigkeit von Politiker*innen, das Kindergartenspiel der Parteipolitik nicht verlassen, um gemeinsam an nachhaltigen Lösungen für das Gemeinwohl zu arbeiten.

Und jetzt hat sich etwas geändert. Ich bin die Empfängerin eines Impfstoffs gegen Covid-19 gewesen. In einem Jahr haben wir ein Wunder für die Menschheit, erschaffen, durch Arbeit von einigen der engagiertesten und brillantesten Menschen auf diesem Planeten. Genehmigt, produziert, vertrieben und verabreicht durch die vereinten Anstrengungen von tausenden weiteren Menschen. Und das Ergebnis ist, dass ich heute in ein regionales Krankenhaus in der Schweiz reisen konnte, um mich von der letzten Person in dieser gigantischen Geniekette, einer freundlichen Frau mit blauen Handschuhen, impfen zu lassen.

Mit dieser Impfung bin ich nicht mehr in Gefahr, ernsthaft krank zu werden, das Gesundheitssystem zu belasten oder meiner Familie und meinen Freund*innen Sorgen zu bereiten. Im Lichte des letzten Jahres habe ich heute das Gefühl, dass ich nicht mehr Teil des Problems bin. Stattdessen bin ich in gewissem Sinne ein Teil der Lösung geworden. In Großbritannien und den USA sind die Menschen bereits optimistischer. Während die Impfraten steigen, sinken die Fallzahlen von Covid-19. Es ist nicht die ganze Lösung, aber sicherlich ein grosser Teil davon, und es ist schön zu wissen, dass es sehr bald unwahrscheinlich sein wird, dass ich Covid-19 bekomme und irgendjemand anderes anstecke.

In einer Umfrage , die im Januar dieses Jahres im Auftrag der SRG SSR durchgeführt wurde, gaben 41% der Teilnehmer*innen an, dass sie bereit wären, sich sofort impfen zu lassen. Diese Rate scheint zu steigen, aber sie reicht immer noch nicht aus. Schon vor dem Auftauchen infektiöserer Varianten sagte die WHO voraus, dass eine Immunität von 60-70% notwendig ist, um die Übertragung zu unterbrechen. Wir brauchen Impfstoffvorräte für alle, eine effiziente Logistik, um sie zu verabreichen, aber vor allem brauchen wir Führungspersönlichkeiten mit Integrität und Mut, die der Öffentlichkeit die Argumente präsentieren können, um sie zu ermutigen, sich selbst und andere zu schützen, indem sie sich impfen lassen.

Oder, wenn es an solchen Führungspersönlichkeiten mangelt, vielleicht stattdessen ein paar Stars dazu bringen, diese Arbeit zu machen, wie Elton John und Michael Caine. So viel Spass beim Zuschauen! Vielleicht könnte der Schweizer Bundesrat Roger Federer, Lara Gut-Behrami und DJ Bobo fragen?

Stell dir vor, dass wir über wirksame Impfungen verfügen, diese aber aufgrund der halbherzigen Impfbereitschaft die Pandemie nicht eindämmen. Stell dir vor, dass trotz der Verfügbarkeit von Impfstoffen die Fallzahlen hoch bleiben und sich neue Varianten rasant entwickeln.

Es ist an der Zeit, sich klar für die Impfung auszusprechen, denn Impfverweigerung könnte das Fenster der Möglichkeiten zerstören, welche die Wissenschaftler*innen im letzten Jahr für uns geschaffen haben.

Verwundbarkeit, ein Wort für unsere Zeit

Kürzlich habe ich an einer klinischen Studie teilgenommen, um herauszufinden, wie meine Medikamente den Verlauf einer Covid-19-Infektion beeinflussen könnten. Zu Beginn musste ich eine Blutprobe abgeben, indem ich mir in den Finger stach und ein paar Tropfen in ein winziges Fläschchen gab. Nachdem ich die Anleitung gelesen und die Ausrüstung ausgelegt hatte, stach ich mir in den Finger und hielt ihn über das Fläschchen. Die Feinmotorik in meinen Händen ist nicht gut. In einer Hand habe ich eine Erkrankung namens CRPS (komplexes regionales Schmerzsyndrom), was bedeutet, dass meine Hand steif und unbeholfen sein kann. Mein Finger blutete, und das Blut schien überall hinzukommen, nur nicht in die Ampulle. Ich schüttelte und drückte meinen Finger immer wieder zusammen, und das Ergebnis war noch mehr Blut, das herumgeschmiert wurde, und ein schmerzender Finger. Am Ende fing meine Wenigkeit - die Frau, die zahlreiche Operationen und unangenehme Krankenhausbehandlungen hinter sich hat, die es liebt, einige der schwierigsten Gipfel der Alpen zu besteigen, die sich seit Jahren jede Woche spritzt - zu weinen an. Das bedeutete, dass ich nicht mehr sehen konnte, was ich tat. Also gab ich auf.

Was ist passiert? Plötzlich hatte ich mich von dieser Situation völlig überwältigt gefühlt. Ich möchte die medizinische Forschung unterstützen, aber ich fühlte mich von diesem kleinen Ereignis erdrückt: eine hoffnungslose und hilflose Person mit unheilbaren Krankheiten, die sich nicht einmal in den Finger stechen kann.

Hatte meine Reaktion in irgendeiner Weise mit der Pandemie zu tun? Das durch den Corona-Virus verursachte Leid, einschließlich der Einschränkungen, die meinem eigenen Leben auferlegt wurden, ist ein Elend. Hing mein Weinen mit diesen Monaten der Einschränkungen zusammen, mit der Müdigkeit, die wir alle fühlen, und mit dem Entsetzen über das weltweite Leid. Das Coronavirus 2019-nCoV erinnert uns daran, dass die Natur stärker ist als wir. Es zeigt uns, dass unsere Bemühungen, das Leben zu kontrollieren und Gewissheiten zu schaffen, damit wir uns sicher fühlen, jeden Moment verschwinden können. Das ist ein beängstigender Gedanke.

Ich sehe Parallelen in den Bedrohungen, die ein Leben in der Pandemie und mit einem unheilbaren Zustand mit sich bringt. In beiden Fällen gibt mir mein Verhalten ein gewisses Maß an Kontrolle. Ich kann das von Covid-19 ausgehende Risiko verringern, indem ich die Empfehlungen zur Verhinderung einer Infektion befolge. Durch ein sorgfältiges Selbstmanagement und die Einnahme meiner Medikamente werde ich meinen Zustand wahrscheinlich unter Kontrolle halten. Aber es gibt in beiden Fällen keine Gewissheit. Trotz der Vorsichtsmassnahmen kann ich immer noch Kontakt zu Covid-19 aufnehmen, und selbst auf ärztlichen Rat hin kann es sein, dass meine Behandlung wie im Jahr 2017 aufhört zu wirken, oder dass ich eine andere Krankheit bekomme, die die bestehende Therapie gefährdet, wie im Jahr 2019.

Sowohl die Pandemie als auch die Veranlagung zu chronischen Krankheiten sind Ausdruck der Kraft der Natur. Ihnen begegnet man am besten mit Demut und Respekt. Angesichts der gegenwärtigen Bemühungen wird die Wissenschaft in relativ kurzer Zeit einen Weg finden, Covid-19 sowohl zu behandeln als auch zu verhindern - das normale Leben wird wiederkehren, und alles wird in Ordnung sein - zumindest in reichen Ländern wie der Schweiz. Das ist nicht das, was die meisten Menschen, die von chronischen Krankheiten betroffen sind, erwarten können. Unsere Situation ist nicht vorübergehend. Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels mit einem Impfstoff. Wir leben die ganze Zeit auf Messers Schneide.

Das Wort, das mir in den Sinn kommt, ist Verwundbarkeit, und darum geht es in diesem Blog: eine Reflexion darüber, was ich unter Verwundbarkeit verstehe, wie chronische Erkrankungen meine Beziehung zu ihr beeinflussen und ob Verwundbarkeit für mich als Patient gut oder schlecht ist.

Nach dem Merrian-Webster-Wörterbuch leitet sich Verwundbarkeit vom lateinischen Verb vulnerare ab , was "verwunden" bedeutet. Es bedeutet Offenheit für Angriffe oder Verletzungen, entweder physisch, emotional oder mental. In Wikipedia bezieht es sich "auf die Unfähigkeit (eines Systems oder einer Einheit), den Auswirkungen einer feindlichen Umgebung standzuhalten".

Verwundbarkeit hat so viele verschiedene Facetten. Sie beschreibt ein zutiefst persönliches inneres Gefühl, aber auch Beziehungen zu anderen Menschen. In meiner inneren Welt beginnt es mit Angst und Furcht vor etwas, oder vielleicht ist es die Unsicherheit, die mich überwältigt und Gefühle der Machtlosigkeit hervorruft. Ich habe das Gefühl, dass ich die Kontrolle verliere, wodurch ich mich schutzlos fühle und mir sehr bewusst bin, dass ich Hilfe brauche. Das kann zu einem Gefühl der Scham und des Schmerzes führen, weil ich es nicht schaffe, was zu Angst und Furcht.... führt und in einem Gefühl der Verletzlichkeit endet. Ich kann Ursache und Wirkung nicht wirklich trennen, es fühlt sich eher wie ein Kreis von Gefühlen an, die tief miteinander verbunden sind.

In meiner Situation als Patientin mit chronischen Erkrankungen kann die Art und Weise, wie Menschen mit mir umgehen, meine Verletzlichkeit entscheidend beeinflussen. Ein Arztbesuch kann dazu führen, dass ich mich sehr verletzlich fühle. Viele der oben genannten Faktoren kommen zusammen. Ich gehe zum Arzt, um ihm oder ihr zu sagen, wie die Schmerzen waren oder weil ich mich krank, deprimiert oder erschöpft fühle. Ich bin gekommen, weil ich mir nicht helfen kann und nicht weiss, was ich tun soll. Um Hilfe zu bekommen, muss ich mich auf die intimste Weise öffnen. Ich erzähle meine Geschichte, manchmal ziehe ich mich aus und stelle mich nackt vor sie oder ihn. Manchmal tue ich das mit einer Person, die ich noch nie zuvor getroffen habe.

Was, wenn ich kein Einfühlungsvermögen oder Interesse von der Person empfinde? Was ist, wenn die Nachricht schlecht ist? Ich habe Angst. Wenn die Lösung ganz einfach erscheint, habe ich mich sogar dafür geschämt, dass ich so viel Aufhebens gemacht habe, und bei den Gelegenheiten, bei denen mir gesagt wurde, dass mit mir alles in Ordnung sei - außer in meinem Kopf - fühlte ich mich missverstanden und sehr unglücklich. Alles in allem ist der Gang zum Arzt nie nur eine "Konsultation", sondern bedeutet immer viel mehr. Manchmal Erleichterung, manchmal neue Ungewissheit, mehr Kontrollverlust und diese Gefühle der Verletzlichkeit kommen wieder auf.

Chronische Krankheit bedeutet per Definition den Verlust der Kontrolle und den Verlust der Gesundheit. Sie kann auch Stigma und Scham bedeuten. Wer mit einer chronischen Krankheit ist nicht schon einmal mit der Einstellung konfrontiert worden, dass der Verlust der Gesundheit ein bisschen selbst verschuldet ist? "Wenn du nur den Mut fändest, deine Medikamente abzusetzen und diese oder jene (Quacksalber-)Behandlung zu befolgen, wärst du geheilt.....bla, bla..." Wenn Menschen mir solche Ratschläge geben, frage ich mich, was sie bewegt. Geben sie mir etwas als Ausdruck des Mitgefühls, oder drängen sie mir etwas auf, um mich auf Distanz zu halten, weil Krankheit eine Bedrohung darstellt?

Chronische Krankheit führt oft zum Verlust des Selbstwertgefühls - nicht nur, weil die chronisch Kranken es nicht geschafft haben, gesund zu bleiben, sondern auch, weil wir manchmal nicht gut aussehen. Wir sind müde, nicht immer in der Lage, Dinge zu tun, die wir wollen. Vielleicht können wir nicht mehr die Arbeit tun, für die wir ausgebildet wurden, oder wir sind zu müde oder unbeweglich oder arm, um auszugehen und Kontakte zu knüpfen, was zu Isolation, Einsamkeit und Depressionen und damit zu noch größeren Schwierigkeiten führt, Freunde zu finden oder zu behalten. Bei ansonsten gleichen Voraussetzungen erhöht eine chronische Krankheit die Verletzlichkeit.

Meine letzte Überlegung ist, ob Verwundbarkeit eine positive Seite haben könnte. Kann Verwundbarkeit mir als Patientin helfen und eine Quelle der Stärke sein? Als bei mir Spondyloarthritis diagnostiziert wurde, suchte ich über meine Patientenorganisation die Gesellschaft anderer Betroffener. Ich war beeindruckt von der Art und Weise, wie einige Menschen ihre Situation akzeptiert und sogar dankbar dafür waren und die Krankheit in ihr Wesen integriert hatten, anstatt sie zu unterdrücken.

Ich glaube, das haben sie getan: Wenn man etwas Wichtiges in seinem Leben verloren hat, wie zum Beispiel gesund zu sein, dann lernt man, dass man nicht perfekt ist und es nie sein wird. Wenn man weiß, dass einem Grenzen auferlegt wurden, auf die man keinen Einfluss hat, und dass man nicht alles tun oder haben kann, was man will (obwohl Lifestyle-Coaches versuchen, uns beizubringen, dass wir es können), dann ist es auch einfacher, dankbar zu sein für das, was man hat, und für jeden Tag, an dem man nichts zu meckern hat.

Die Spondyloarthritis anzuerkennen bedeutet, dass ich meine Unvollkommenheit erkennen und lernen muss, meine Grenzen zu akzeptieren. Um das zu tun, muss ich mir eine Pause gönnen und Mitgefühl für mich selbst finden. Dieser Akt des Mitgefühls öffnet die Tür zur Akzeptanz und hilft mir, die Person zu sein, die ich bin, ohne mich zu verstellen.

Wenn dieses Verständnis von mir selbst es mir erlaubt, in einer Weise zu handeln, die mit meinen Überzeugungen und Erfahrungen kongruent ist, dann kann ich mich mit anderen verbinden, ohne Angst davor haben zu müssen, was andere denken oder ob ich verletzt, enttäuscht oder in irgendeiner Weise versagen werde. Dieser Weg zur Verbindung schliesst mein Verständnis von Authentizität ein: Mich in meiner Verletzlichkeit zu zeigen, bedeutet, mein wahres Selbst zu zeigen, und das lässt Verwundbarkeit schön und zu einer Quelle der Stärke werden.

In ihrem TED-Vortrag erzählt Brené Brown die Geschichte vieler Jahre der Forschung und persönlicher Entdeckungen, um die Macht der Verwundbarkeit zu verstehen. Sie erklärt, wie die Annahme von Verwundbarkeit Menschen dazu befähigt, sich würdig zu fühlen, was ihnen wiederum ein starkes Gefühl von Liebe und Zugehörigkeit vermittelt.

Wenn wir versuchen, Verletzungen zu vermeiden und uns nicht erlauben, verletzlich zu sein, legen wir eine isolierende Hülle um uns. Dann können wir uns nicht so zeigen, wie wir sind, und verlieren die Möglichkeit, uns mit diesen Gefühlen von innerem Wert, Liebe und Zugehörigkeit zu verbinden. Das Dilemma, das Brené Brown erklärt, besteht darin, dass wir die Ängste, die Verletzlichkeit aufdeckt, nicht selektiv betäuben können, ohne auch die positiven Qualitäten zu betäuben. Wenn wir also unsere Verletzlichkeit unterdrücken, betäuben wir gleichzeitig auch Gefühle von Freude, Dankbarkeit und Liebe und schneiden uns von diesen Quellen des Glücks ab.

Ich spüre es selbst, und einige Mitpatient*innen haben mir das Gleiche gesagt: Die Verletzlichkeit, die ihre Situation in ihr Leben gebracht hat, hat auch ihre Fähigkeit erhöht, Freude und Dankbarkeit zu empfinden, im Augenblick mit Liebe und Glück im Herzen zu leben. Verwundbarkeit - in der Tat ein Wort für unsere Zeit.